„75 Jahre Grundgesetz. Ist der Bundesstaat noch zeitgemäß?“
Unter dieser Leitfrage fand am 8. Oktober 2024 die Konferenz zum Grundgesetzjubiläum in Berlin statt. Organisiert wurde die Konferenz vom Forum of Federations und dem Arbeitsbereich „Politisches System der Bundesrepublik Deutschland“ an der Freien Universität Berlin. In der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften diskutierten Vertreter aus Wissenschaft und Praxis, ob der deutsche Bundesstaat den Herausforderungen der Zukunft als föderaler Bundesstaat noch gewachsen sei. Die Herausforderungen, die auf der Konferenz genauer unter die Lupe genommen wurden, waren: Klimapolitik, Energiepolitik und die Digitalisierung.
Klimapolitik
So fragten sich die Teilnehmer, ob ein föderaler Bundesstaat mit seinen geteilten Zuständigkeiten in einem Feld wie der Klimapolitik, in der schnelles und koordiniertes Handeln notwendig ist, überhaupt angemessen ist. Interessante Einblicke gab es dazu von Alan Fenna, Professor an der Curtin University in Australien. In bestimmten Fällen könne Föderalismus hilfreich sein, um Klimapolitik voranzubringen. Wenn es etwa um Klimaanpassungsmaßnahmen gehe, könnte die auf lokaler Ebene sehr gut maßgeschneidert umgesetzt werden. Schwieriger sei das bei „climate mitigation“, also Maßnahmen, die den Ausstoß von Treibhausgasen begrenzen. Dort stoße man etwa auf Ebene der Kommunen auf kollektive Handlungsprobleme. Ein Vorteil eines föderalen Staates könne auch sein, dass in Situationen, in denen die Bundesregierung keine effektive Klimapolitik mache, Bundesstaaten dennoch ihre eigenen Maßnahmen umsetzten. Das sei etwa in den USA unter der Trump-Regierung zu beobachten gewesen. Einen weiteren Vorteil eines föderalen Systems in der Klimapolitik stellt Carsten Sieling, ehemaliger Bürgermeister von Bremen, heraus: Bei der großen Herausforderung der Dekarbonisierung sei man potentiell erfolgreicher, wenn man möglichst viele Akteure mitnehme. Das sei in föderalen Staaten besonders gut möglich. Ein Beispiel dafür liefert Carsten Kühl vom Deutschen Institut für Urbanistik: Er lobt, wie die kommunale Wärmeplanung angeschoben wurde. Den Kommunen wurden nur Ziele vorgegeben, aber nicht, wie sie diese erreichen müssen. So werde der Heterogenität der verschiedenen Ausgangslagen vor Ort Rechnung getragen.
Im Klimaschutz bietet der Föderalismus aber nicht nur Vorteile, wie Lilian Busse vom Umweltbundesamt (UBA) berichtet. Vorteilhaft sei zwar, dass die Länder in Sachen Klima- und Umweltschutz ihre eigenen Daten erhöben, das biete gute Möglichkeiten für die Partizipation vieler Akteure. Andererseits mache diese Fragmentierung die Arbeit des UBA auch schwieriger, weil die Erhebung der Daten so uneinheitlich geschehe.
Digitalisierung
Wie zeitgemäß ist der Föderalismus in Sachen Digitalisierung? Hier sind sich die Panelisten mehr oder minder einig, dass es zwar viele Hindernisse in Sachen Digitalisierung gebe – der Föderalismus als solcher aber nicht schuld an der häufig schleppenden Digitalisierung sei. Bestimmte Reformen seien dennoch notwendig. So ist Dorothea Störr-Ritter vom Normenkontrollrat etwa der Meinung, dass es ein großes Problem sei, dass eine Mischverwaltung durch das Grundgesetz verboten sei. Die Datenschutzbeauftragten der Länder dürften sich etwa nicht untereinander austauschen. Solche Regelungen seien hinderlich. In gewissen Bereichen wie etwa den Sozialleistungen seien Bündelungen notwendig aus Kompetenzen, die aktuell noch unter Bund, Ländern und Kommunen verteilt sind. Auch Markus Richter, Staatssekretär im Bundesministerium des Inneren und für Heimat und Beauftragter der Bundesregierung für Informationstechnik, findet, dass es im Grundgesetz gewisser Änderungen bedürfe, da die Gründerväter der Bundesrepublik die Digitalisierung nicht im Blick haben konnten. Mit Hinblick auf die Digitalisierung fordert er bewusstere Entscheidungen; wenn diese nicht getroffen würden, begebe man sich täglich in immer stärkere Abhängigkeiten, weil die technologischen Entwicklungen so rasant fortschritten. Mit Hinblick auf Kriege oder den Klimawandel ist Richter besorgt: „Wenn Krisen noch häufiger auftreten, kann ich ein Staatsversagen nicht ausschließen.“
Energiepolitik
Reformbedarf sieht auch Politologin Michèle Knodt von der TU Darmstadt in der Energiepolitik. Sie berichtet von der Bundeswasserstoffstrategie, die 2020 verabschiedet wurde, an der aber nur vier Bundesländer beteiligt wurden. Dagegen gebe es 15 verschiedene Wasserstoffstrategien der Bundesländer. Das müsse besser koordiniert werden, findet Knodt. Es geht aber nicht nur um bessere Koordination, sondern auch um Vereinheitlichung. Barbie Kornelia Haller von der Bundesnetzagentur plädiert für eine stärkere Vereinheitlichung des Energiesystems: "Wir haben 866 Monopolisten im Strom, etwa genauso viele im Gas, jetzt 16 im Wasserstoffbereich. Es ist für Unternehmen unzumutbar, in jedem Verteilnetz eigene technische Regelungen vorzufinden.“
Es gibt also viel zu tun: bessere Koordination, Kompetenzbündelung, Vereinheitlichung von Standards und Anpassung von Regelungen an die Gegebenheiten der Digitalisierung. Aber wie einfach lassen sich Reformen im und des deutschen Föderalismus überhaupt umsetzen? Norbert Lammert, ehemaliger Bundestagspräsident, sagt, er sei etwas ernüchtert: Die vergangenen Föderalismusreformen hätten kaum zu Verbesserungen geführt, ebenso wenig die Änderungen des Grundgesetzes. Etwas optimistischer gibt sich die Politologin Sabine Kropp von der FU Berlin. Man könne den deutschen Föderalismus durchaus noch flexibilisieren: möglich wäre etwa ein „opt-out System“. So könnten bestimmten Absprachen unter den Ländern so gestaltet werden, dass nicht alle Länder diese Absprachen umsetzen müssten. Was Reformprozesse im Föderalismus angeht, so müsste eine Reformkommission in Zukunft auf jeden Fall anders gestaltet werden als 2006, indem man sich z.B. vor Beginn der Verhandlungen auf ein tragfähigeres Leitbild verständige.
Lammert kritisiert außerdem, dass der Bund dieser Tage in allen Feldern mitmische, auch solchen, die mal Sache der Länder waren: „Es gibt keinen Bereich, in dem der Bund nicht seinen Löffel im Topf hat“. Die Länder hätten schrittweise gegen finanzielle Leistungen des Bundes immer mehr Kompetenzen abgegeben. Das beträfe auch die Bildungspolitik, die traditionell als Ländersache gilt. Hier stimmt Kropp Lammert zu: Zuständigkeiten würden so intransparent gemacht, glaubt sie. Immerhin: auch wenn der Bund häufig die finanziellen Mittel stellen würde, träfen die Länder in ihren Kompetenzbereichen zumeist noch immer ihre eigenen Entscheidungen, wobei sie den Bund oft auf die Rolle des Zahlmeisters verweisen würden. Gut für den Föderalismus sei dies aber nicht.
Gegner des Föderalismus sucht man auf der Konferenz vergeblich. Trotz aller Reformbedarfe wird der Föderalismus als solcher nicht infrage gestellt. Karl-Heinz Paqué, Vorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung bringt es so auf den Punkt: „Der Föderalismus an sich ist nicht das Problem. Das Problem ist die Bürokratisierung, die Schwerfälligkeit des Systems.“
Selbst wenn es eine neue deutsche Verfassung gäbe, so wäre das eine bundesstaatliche Verfassung, glaubt Stefan Korioth, Professor für öffentliches Recht an der LMU München. Das sei in der deutschen Geschichte so verankert: „Diese Tradition wurde nur unterbrochen unter totalitärer Verfassung.“ So mancher sieht den deutschen Föderalismus sehr positiv, so etwa der Australier Alan Fenna: „I tell everybody in the world that Germany has the world's best federal system“.